Presse-Archiv 2002

Kreis richtet Servicestelle ein - Verfassungsklage wegen Finanzierung?

Grundsicherungsgesetz gegen Altersarmut

22.11.2002

Darmstadt-Dieburg - Zum Jahreswechsel tritt das neue Grundsicherungsgesetz in Kraft, doch schon seit Wochen wird das Landratsamt förmlich überschwemmt mit Anfragen und Anträgen. Dabei ist die Kreisverwaltung teilweise selbst noch im Unklaren über wichtige Details und vollauf damit beschäftigt, sich finanziell, organisatorisch und personell auf die neue Aufgabe vorzubereiten.
Mit dem Grundsicherungsgesetz hat die Bundesregierung im Rahmen der Rentenreform einen dritten Leistungszweig neben Rentenversicherung und Sozialhilfe geschaffen, um Menschen über 65 Jahren sowie auch jüngeren Männern und Frauen, die aus gesundheitlichen Gründen voll erwerbsgemindert sind, einen wirtschaftlichen Mindeststandard zu gewährleisten. Liegen ihre Einkünfte unterhalb einer gewissen Grenze, sollen sie von der öffentlichen Hand Mittel für den Lebensunterhalt, für Miete und Heizung erhalten; gegebenenfalls werden auch die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung übernommen.
Wie hoch der jeweilige Bedarf eingestuft wird, hängt nicht allein von der Rente ab. Auch andere Einkünfte, beispielsweise aus einer privaten oder betrieblichen Altersvorsorge, Witwenpensionen oder Zinserträge, werden angerechnet. Weil Daten darüber nirgends gebündelt vorliegen, lässt sich die Zahl der Anspruchsberechtigten nur schwer kalkulieren. Die Rentenversicherungsträger verschicken zurzeit Informationsmaterial über das Grundsicherungsgesetz an alle Empfänger von weniger als 844 Euro Ruhegeld; das ist offenbar die Ursache der Anfragenflut. Für die Grundsicherung wird das Büro für Senioren und Sozialplanung im Kreishaus Dieburg zuständig sein. Vier Ansprechpartner stehen Ratsuchenden dort ab Januar zur Verfügung. Landrat Alfred Jakoubek hat die Stelle ganz bewusst nicht dem Sozialamt zugeordnet, weil viele Menschen den Gang dorthin als peinlich empfinden und möglicherweise aus Scham auf ihr Recht verzichten würden. Vorsichtig geschätzt, geht man von rund 20.000 potenziellen Antragsstellern im Landkreis Darmstadt-Dieburg aus und erwartet, dass nach Berücksichtigung der gesamten Einkommens- und Vermögensverhältnisse in weniger als der Hälfte der Fälle ein tatsächlicher Bedarf bestätigt wird. Die finanziellen Folgen des Grundsicherungsgesetzes beziffert Jakoubek nach einer ebenfalls nur vorläufigen Hochrechnung vorsichtig mit 2,5 bis 3,5 Millionen Euro im nächsten Jahr. Auch wenn die Höhe der zu erwartenden Bundesmittel noch nicht genau feststeht - der Anteil für Darmstadt-Dieburg liegt wohl irgendwo zwischen einer und anderthalb Millionen Euro - und obwohl teilweise Mittel aus der Sozialhilfe umgeschichtet werden, geht Jakoubek davon aus, dass das neue Gesetz am Ende zu einer Mehrbelastung des Kreises führt. In der gleichen Situation befinden sich alle 323 Landkreise und die kreisfreien Städte in Deutschland - und knirschen mit den Zähnen. Ihre Kritik wendet sich weniger gegen den Inhalt des Grundsicherungsgesetzes als vielmehr gegen das Verfahren. Der Deutsche Landkreistag hält das Vorgehen der Bundesregierung für verfassungswidrig und bereitet eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht vor. Ein Rechtsgutachten bezeichnet es als unvereinbar mit dem Grundgesetz, dass der Bund im vorliegenden Fall unmittelbar die kommunale Ebene zum Aufgaben- und Finanzierungsträger bestimmt und das Konnexitätsprinzip (Wer bestellt, bezahlt) umgangen hat. Hätte dagegen nach der üblichen Praxis der Bund die Länder mit der Umsetzung des Grundsicherungsgesetzes beauftragt und diese hätten die Aufgabe an die Kommunen delegiert, wären die Länder dauerhaft verpflichtet gewesen, für die entstehenden Kosten aufzukommen. Die Landkreise dringen auf eine Änderung des Grundgesetzes, nach der auch dem Bund eine Finanzierungsverantwortung gegenüber den Kommunen zugeschrieben wird.

db

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