Presse-Archiv 2012

Interdisziplinärer Fachtag Migration und Sprache

„Unsere Gesellschaft ist bunter, dazu zählt auch Sprachvielfalt“

26.04.2012

Rund 90 Kinderärzte und Fachleute aus den Bereichen Migration und Sprache aus Südhessen kamen im Kreistagssitzungssaal zusammen.

Darmstadt-Dieburg – Erstmals haben sich Kinderärzte, Logopäden, Erzieherinnen und Erzieher und Fachleute aus dem Bereich Migration und Gesundheit aus Südhessen zu einer interdisziplinären Fortbildung zusammengefunden, um sich über das Thema Sprachentwicklung und Einschulung bei Kindern mit Migrationshintergrund zu informieren und auszutauschen. Der Einladung vom Interkulturellen Büro des Landkreises Darmstadt-Dieburg, des Interkulturellen Büros der Stadt Darmstadt und von PädNetz Südhessen sind rund 90 Fachleute gefolgt. Landrat Klaus Peter Schellhaas hob zur Eröffnung der Fachveranstaltung hervor, dass Sprache eine wichtige Voraussetzung sei, um an allen gesellschaftlichen Bereichen teilhaben zu können. „Unsere Gesellschaft ist bunter geworden, dazu zählt auch Sprachvielfalt“, so der Landrat.

Darmstadts Oberbürgermeister Jochen Partsch ließ ein Grußwort von der Leiterin seines Interkulturellen Büros, Dr. Patricia Latorre überbringen. Er wies darauf hin, dass Migranten weniger an gesundheitlicher Vorsorge teilnehmen als Deutschstämmige. Für einen Teil der Migranten sei der Zugang zu medizinischen und gesundheitsfördernden Angeboten schwierig, weil Sprach- und Verständigungsprobleme bestünden. Dr. Volker Baum, Kinderarzt in Seeheim-Jugengenheim und Mitglied im PädNetz Südhessen, stellte dar, dass Kinderärzte immer häufiger mit sprachlichen Defiziten von Kindern konfrontiert seien. „Unsere Aufgabe ist es, Sprachdiagnosen zu stellen, die Kinder zu behandeln und letztlich auch die Eltern zu beruhigen“, so Dr. Baum.

Dr. Georg Hoffmann, Leiter des Gesundheitsamts Darmstadt und Darmstadt-Dieburg zeigte auf, dass bei der Schuleingangsuntersuchung 2010/2011, mit der 4.188 Kinder aus dem Landkreis und der Stadt Darmstadt untersucht wurden, rund 26 % der Kinder aus dem Landkreis Darmstadt-Dieburg Sprachauffälligkeiten aufwiesen. Von den Jungen mit Migrationshintergrund zeigten 46 % Auffälligkeiten beim Sprachtest, bei den deutschen Jungen waren es 21 %. Unter den Mädchen mit Migrationshintergrund waren 38 % sprachauffällig, deutsche Mädchen zu 17 %. Nicola Küpelikilinc, Psychologin und Fachreferentin für Sprachförderung, machte deutlich, dass in Deutschland immer mehr Schülerinnen und Schüler mehrsprachig aufwachsen. Dabei sei eine deutliche Hierarchie auszumachen „Deutsch-Englisch aufzuwachsen ist hoch angesehen, Deutsch-Urdu weniger“, so die Sprachexpertin. Es bestünden viele wissenschaftlich nicht belegte Mythen rund um das Thema Mehrsprachig-Aufwachsen. „Zweisprachige Kinder sprechen weder früher noch später als einsprachige und zeigen keine verstärkte Tendenz zu Sprachstörungen“, so Nicola Küpelikilinc. Belegt sei dagegen, dass Mehrsprachigkeit das Erlernen weiterer Sprachen erleichtere, das Verständnis für sprachliche Konstruktionen fördere und Kreativität und logisches Denken, auch bei nonverbalen Aufgaben gestärkt werde. Mehrsprachige Menschen seien darüber hinaus erwiesenermaßen kognitiv flexibler. Nicola Küpelikilinc unterstrich, dass Mehrsprachigkeit an sich kein Hindernis für Lernerfolg ist. Allerdings sei nachgewiesen, dass bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern spezifische Sprachentwicklungsstörungen später behandelt und länger therapiert würden. Außerdem seien Eltern von mehrsprachigen Kindern verunsichert. Sie plädierte deshalb für eine frühzeitige Sprachstandserfassung bei allen Kindern, an die sich dann systematische Sprachförderung anschließen müsse. Wichtig sei, Eltern einzubeziehen und fachlich zu unterstützen.

Anna Willich, Orientalistin und Mitarbeiterin im Internationalen Familienzentrum Frankfurt, betonte, dass Migranten keine homogene Gruppe sind, sondern große Unterschiede aufweisen, etwa in ihrem kulturellen Hintergrund, Bildungsstand und Wertvorstellungen. „Von Anfang an sollte man sich vor Augen halten, dass man mit Individuen kommuniziert“, so ihre Empfehlung. Zum Abschluss stellte Kinderarzt Dr. Baum die Frage „Wenn nicht die Mehrsprachigkeit den Bildungserfolg von Kindern verschlechtert, welche Faktoren sind es dann?“ Er schlug vor, sich dieses Thema bei der nächsten interdisziplinären Fortbildung von Kinderärzten, Logopäden, Erzieherinnen und Erziehern und Fachleute aus dem Bereich Migration und Gesundheit aus Südhessen vorzunehmen.

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