Presse-Archiv 2010

Fachtag diskutiert Schutz von Kindern

„Prävention ist möglich, aber nicht zum Nulltarif“

01.12.2011

Darmstadt-Dieburg – Statistisch gesehen leben 7 bis 8 Prozent aller Neugeborenen mit dem Risiko, zwischen ihrer Geburt und ihrem sechsten Lebensjahr vernachlässigt oder misshandelt zu werden. Im Landkreis Darmstadt-Dieburg wären das bei 2373 Geburten im Jahr 2010 rein rechnerisch 180 Kinder. Das machte Dr. Wilfried Kratzsch in seinem Beitrag während des Fachtags „Familien früh im Blick“ deutlich, an dem auf Einladung des Landkreises rund 100 Mitarbeiter aus Kindertagesstätten, des Gesundheitsamtes, der Jugendhilfe und der häuslichen Kinderkrankenpflege, Frauenärzte, Kinderärzte und Hebammen im Kreistagssitzungssaal teilnahmen. Dr. Kratzsch ist beteiligt an einem Präventionsprogramm der Stadt Düsseldorf, das Gefährdungen von Kindern früh über ein Screeningverfahren erkennt, und war leitender Oberarzt eines Kinderneurologischen Zentrums der Stadt. „Kindeswohlgefährdung ist in den meisten Fällen vorher bekannt“, so Kratzsch. Das Wissen der Kindertagesstätten und der Gesundheitshilfe müsse besser miteinander verzahnt werden.

Nach Auskunft von Wilfried Kratzsch hat eine Untersuchung an sieben Frauenkliniken in NRW ergeben, dass rund 80 bis 90 Prozent aller Familien gut und ohne Unterstützung klarkommen. Mit 10 bis 20 Prozent sei der Anteil der Familien, die nicht über genügend Fähigkeiten und Ressourcen verfügen, aber nicht in einer Notlage sind, relativ niedrig. Sehr belastet und gefährdet und damit auf Hilfe durch die Jugendämter angewiesen, seien 1 bis 5 Prozent der Familien. Es komme darauf an, diese gefährdeten Kinder früh zu erkennen. „Das Bauchgefühl der Fachleute ist dabei wichtig, muss aber objektiv unterlegt werden“, so Dr. Kratzsch. Ein Screeningbogen solle bei allen Geburten ausgefüllt werden, um strukturiert die gesundheitliche und psychosoziale Belastungssituation der Frauen und Familien zu erfassen. Dabei werden nicht nur die Grunddaten der Familie, sondern auch die gesundheitliche Situation von Eltern und Kind bewertet, eine Einschätzung zur Überforderung gegeben, Fragen zur Schwangerschaft beantwortet und Kontakte mit dem Jugendamt dokumentiert.

„Fällt auf der Wöchnerinnenstation auf, dass eine Mutter eher teilnahmslos und passiv ist, wenig mit ihrem Kind spricht oder nicht zärtlich mit ihm umgeht, es häufig abgibt oder negative Bemerkungen macht, müssen wir aufmerksam sein“, so Dr. Kratzsch. Wichtig sei es dann, mit der Mutter ins Gespräch zu kommen. Herausgefunden werden soll dabei, ob es helfende Personen um Umfeld der Familie gibt oder ob eine Weiterleitung zu anderen Einrichtungen erforderlich ist. „Es muss eine fallführende Stelle geben und man muss sich zuständig fühlen“, so Dr. Wilfried Kratzsch. Auch wenn die Familie nach unterstützenden Maßnahmen wieder gut zurecht komme, solle die weitere Entwicklung des Kindes systematisch nachverfolgt werden. Der Kinderarzt hob aber auch hervor, dass Familien nicht als „arme Familie“, „Risikofamilie“ oder „Gewaltfamilie“ stigmatisiert werden dürfen. „Jede Familie hat ihre Ressourcen“, so der Kinderarzt. Sein Fazit: „Prävention ist im Rahmen der Regelversorgung möglich, aber nicht zum Nulltarif“. Je später Prävention einsetze, desto schwerwiegender seien die Folgen und desto höher die Kosten.

Erste Kreisbeigeordnete Rosemarie Lück berichtete, dass der Landkreis Darmstadt-Dieburg vor zwei Jahren die Fachstelle Frühe Hilfen eingerichtet hat. Die Koordinierungsstelle habe ein Netzwerk aus Frauenärzten, Kinderärzten, Hebammen, Sozialarbeitern und Erzieherinnen geknüpft und baue dies stetig weiter aus. „Der Schutz von Kindern erfordert, dass diejenigen, die beruflich mit Schwangeren, Säuglingen, Kindern und mit jungen Eltern im Kontakt sind, einander kennen“, so Rosemarie Lück. Nur so könne vertrauensvoll zusammengearbeitet und nötigenfalls auch Maßnahmen auf kurzem Wege eingeleitet werden.

Erste Kreisbeigeordnete Rosemarie Lück und die Hauptabteilung Familie und Soziales planen, das Konzept der Frühen Hilfen im Landkreis Darmstadt-Dieburg weiter auszubauen. Junge Familien im Landkreis sollen künftig bei Bedarf durch Familienhebammen unterstützt werden. Darüber hinaus ist vorgesehen, Kindertagesstätten im Landkreis zu Familienzentren weiter zu entwickeln. Der Kreistag wird in seiner Sitzung am 12. Dezember über die Vorschläge von Vize-Landrätin Lück entscheiden.

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