Presse-Archiv 2014

Psychosozialer Beirat spricht sich für schnelle Aufstockung ambulanter Leistungen der psychosozialen Versorgung in der Stadt Darmstadt und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg aus

07.11.2014

Darmstadt-Dieburg/Darmstadt - Unter der Leitung von Darmstadts Bürgermeister Rafael Reißer, der Ersten Kreisbeigeordneten des Landkreises Darmstadt-Dieburg, Rosemarie Lück und der Darmstädter Sozialdezernentin Barbara Akdeniz setzt sich der Psychosoziale Beirat seit Jahren mit der bedarfsgerechten Versorgungssituation von psychisch kranken Menschen in Darmstadt und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg auseinander. Im Rahmen einer Fachtagung im März haben die Mitglieder des Psychosozialen Beirates unter dem Titel „Hilfe – verzweifelt gesucht“ erneut auf die prekäre Versorgungssituation in der ambulante psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung in  Darmstadt und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg aufmerksam gemacht.

Reißer, Lück und Akdeniz kritisieren: „Die kommunale Ebene hat mit zahlreichen Folgeproblemen zu tun, die auch dadurch entstehen, dass therapeutische Unterstützung für psychisch kranke Menschen nicht zeitnah und damit bedarfsgerecht erfolgen kann. Die Bemessungsgrundlage der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) entspricht nicht den tatsächlichen Realitäten und muss dringend verändert werden. Wir finanzieren zahlreiche flankierende Beratungsangebote für Menschen in psychosozialen Notlagen und erwarten von den politisch Verantwortlichen auf Landes- und Bundesebene eine zeitnahe Neuordnung der Angebotsstruktur in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung.“ In einer Resolution an verantwortliche Entscheidungsträger im Gesundheitswesen heißt es daher: „Die ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung ist weiterhin sehr schlecht. Patientinnen und Patienten sowie Angehörige aus Darmstadt und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg berichten über extrem lange Wartezeiten auf dringende Behandlungstermine, sofern sie überhaupt angenommen werden.“ Hauptursache sei die Unterfinanzierung der ambulanten Versorgung insbesondere bei psychischen Erkrankungen und das trotz ihrer nachgewiesenen Zunahme.

Auch weitere Beiratsmitglieder äußern sich besorgt: „Die Inanspruchnahme psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung hat bei einem stetig wachsenden Anteil psychischer Erkrankungen in den letzten Jahren stark zugenommen. Schon jetzt bestehen erhebliche Schwierigkeiten für die Bevölkerung in unserer Region bei psychischen Erkrankungen und Krisen in einem vertretbaren Zeitraum eine entsprechende Behandlung zu finden, trotz angeblicher Überversorgung im Rahmen der aktuellen Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung in Stadt und Kreis. Ohne strukturelle Veränderungen im Behandlungsangebot wird in naher Zukunft eine zunehmende Zahl von Patienten keine ausreichende Behandlung mehr finden. Hintergrund ist auch eine praktisch pauschale Fallvergütung für Psychiater und Nervenärzte, die eine zeitaufwendigere Behandlung schwerer Krankheitsbilder finanziell bestraft. Sollte die geplante Regelung, dass alle Patienten innerhalb von vier Wochen eine Facharztbehandlung garantiert bekommen, eingeführt werden, wird sich die Zeit, die ein Nervenarzt pro Patient zur Verfügung hat, nochmals drastisch reduzieren. Damit wäre eine sinnvolle und qualitativ ausreichende psychiatrische Behandlung nicht mehr möglich“, erklärt der Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Michael Bohny. „Wir fordern mehr Psychiater und eine leistungsgerechte Vergütung. Hilfreich wäre eine zentrale Anlaufstelle für Menschen in psychischen Krisen, die erste Kriseninterventionen durchführt, weitere Behandlungsnotwendigkeit klärt und die Patienten weiterverteilt,“ erläutert der Arzt weiter.

Dieser Forderung schließt sich Norbert Schüssele, Dienststellenleiter des Gemeindepsychiatrischen Zentrums Darmstadt des Caritasverbandes Darmstadt e.V. an: „Im Bereich der ambulanten Gemeindepsychiatrie betragen die Wartezeiten bei niedergelassenen Fachärzten für Psychiatrie und Neurologie bis zu acht und mehr Monate. Das ist für akut psychisch erkrankte Menschen eine Katastrophe. Der Notdienst der Kliniken kann nicht einen angemessenen Zugang zu einem Facharzt ersetzen. Wir halten die Haltung der Kassenärztlichen Vereinigung, eine ausreichende Versorgung in unserer Region vorzuhalten, für falsch. Für die Einrichtungen der Wiedereingliederung, wie Tagesstätte und Betreutes Wohnen, benötigen die Klienten ein fachärztliches Gutachten. Bedingt durch die langen Wartezeiten wird dieses Verfahren verkompliziert. Um mehr Patienten den Zugang zu einer Psychotherapie zu ermöglichen, regen wir in Einzelfällen eine kürzere Behandlungsdauer und eine stärkere Honorierung der Gruppentherapie an, so dass diese vermehrt angeboten wird.“

Aus der Sicht der Angehörigenvertretung beschreibt Gisela Petersen die aktuelle Situation: „Grundsätzlich sind die Wartezeiten zu lange bis eine Therapie begonnen werden kann. Für einen kranken Menschen ist das Finden eines Therapeuten eine fast nicht zu leistende Arbeit. Schwerer erkrankte Menschen haben besondere Schwierigkeiten, einen Therapeuten zu finden, der sich ihrer annimmt. Obwohl die Gesprächstherapie als ganz wichtiger Baustein der Behandlung gerade bei den seelischen Erkrankungen endlich anerkannt wird, ist die abzurechnende Zeit pro Patient völlig unverständlich. Die Bemessungsgrundlage der KV für die Anzahl der Therapeuten pro Region bildet die reale Bedürfnissituation nicht ab.“

„Für die Betroffenen ist es wichtig, zeitnah ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Hilfe zu erhalten. Eine Wartezeit von über sechs Wochen auf einen Facharzttermin und von mehr als sechs Monaten auf ein Erstgespräch beim Psychotherapeuten führen oft zu einer Verschlechterung der Erkrankung. Wünschenswert wären ein psychotherapeutischer Notruf/Notdienst für akute und dringende Fälle, eine bessere Einbindung der Hausärzte, die rasche Vermittlung eines geeigneten Therapeuten, ein Angebot von Präventionsmaßnahmen, mehr Begleitung im Alltag und unter Umständen auch die Öffnung der Klinikambulanzen für sogenannte leichtere Fälle“, erklärt Markus Sänger von der Burnout-Selbsthilfegruppe Darmstadt.

Professor  Martin Hambrecht, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Agaplesion Elisabethenstift, weist auf die gravierenden Folgen der ambulanten Versorgungsdefizite für die Krankenhäuser hin. Viele Patienten kommen zu spät und in einem fortgeschrittenen Stadium zu Behandlung. Vieles hätte man zuvor schon ambulant auffangen können. Häufig hat sich die Situation aber so zugespitzt, dass nicht mehr in Ruhe geplant, sondern nur noch notfallmäßig behandelt werden kann. Die ambulanten Engpässe erschweren dann auch die Vermittlung in eine Nachbehandlung nach einer stationären Therapie, so dass die Rückfallgefahr steigt."

Dr. Thomas Wobrock, Chefarzt des Zentrums für Seelische Gesundheit der Kreiskliniken Darmstadt-Dieburg, erläutert hierzu: „Engpässe und lange Wartezeiten in der ambulanten psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung führen häufig zu einer Verschlechterung der psychischen Erkrankung und zu einer stationären Behandlungsbedürftigkeit. Oftmals finden gerade auch die schweren psychischen Erkrankungen, für die nach Leitlinien eine psychotherapeutische Versorgung neben einer medikamentösen Behandlung zu empfehlen ist, keinen ambulanten Ansprechpartner. Die Öffnung der Psychiatrischen Institutsambulanzen der Kliniken für solche Fälle mit Aufstockung der Stellen durch Vereinbarung einer entsprechenden Vergütung könnte zu einer Verbesserung beitragen."

Einig sind sich alle Expertinnen und Experten sowie die kommunalpolitisch Verantwortlichen, dass im Gesundheitssystem die Angebotsstruktur verbessert werden muss, denn auch in Darmstadt und dem Landkreis Darmstadt-Dieburg steigen die Zahlen der Betroffenen.

„Psychische Erkrankung kann jeden und jede treffen und ist kein seltenes Phänomen. Deshalb stehen die Kommune und der Kreis seit Jahren in der Verantwortung, ein vernetztes, niedrigschwelliges Hilfesystem vorzuhalten, das von freien Trägern aber auch vom Gesundheitsamt angeboten wird. Mit der Psychiatriekoordination halten wir seit Jahrzehnten eine Stelle im Sozialpsychiatrischen Dienst vor, die Angebotsstrukturen analysiert und bewertet und an die kommunale politische Ebene Verbesserungsvorschläge unterbreitet. Leider können wir diese wichtige Aufgabe aber nicht alleine stemmen, deshalb brauchen wir Unterstützung von Landes- und Bundesebene“, so Reißer, Lück und Akdeniz.

Dr. Susanne Jöhnck, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Leitung des sozialpsychiatrischen Dienstes am Gesundheitsamt Darmstadt- Dieburg: „Die Zahl der Hilfesuchenden bei Sozialpsychiatrischen Dienst steigt stetig. Insbesondere wenden sich zunehmend Menschen an uns, die in Not sind, da sie keinen Termin bei einem Facharzt oder keinen Therapieplatz bekommen. Unsere Aufgabe ist es dann, so gut wie möglich, die Menschen dabei zu unterstützen eine notwendige Behandlung zu erhalten und die Zeit bis diese greifen kann, so gut wie möglich zu überbücken. Zusätzlich beobachten wir einen starken Anstieg der Einweisungen durch die Polizei. Waren es 2012 insgesamt 283 Zwangseinweisungen, stieg diese Zahl innerhalb von zwei Jahren auf etwa 400 an. Aus unserer Sicht ist dies auch Folge der mangelnden ambulanten Behandlungsmöglichkeiten, da Menschen mit psychischen Problemen häufig zu spät behandelt werden können und sich Situationen so unnötig zuspitzen."

Dem Psychosozialen Beirat gehören als Mitglieder an: Bürgermeister Rafael Reißer, die Sozialdezernentin der Wissenschaftsstadt Darmstadt und die Sozialdezernentin des Landkreises Darmstadt-Dieburg, ein Vertreter oder eine Vertreterin des Amtes für Soziales und Prävention der Stadt Darmstadt, des Sozialamtes des Landkreises Darmstadt-Dieburg, des Gesundheitsamtes der Stadt Darmstadt und des Landkreises Darmstadt-Dieburg, des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, der Agentur für Arbeit, der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Agaplesion Darmstadt, des Zentrums für Soziale Psychiatrie Philippshospital, Walter-Picard-Klinik, Riedstadt, des Zentrums für Seelische Gesundheit, Groß-Umstadt, des Zentrums für Soziale Psychiatrie Bergstraße, Heppenheim, des Caritasverbandes Darmstadt, des Sozialpsychiatrischen Vereins Darmstadt e.V., der REAS GmbH & Co. KG, der Psychosozialen Dienste Bergstraße, des Eigenbetriebs Darmstädter Werkstätten und Wohneinrichtungen, des Vereins für Behindertenhilfe in Dieburg und Umgebung e.V., der niedergelassenen Nervenärzte/Psychiater, des Angehörigenvereins Darmstadt e.V., der Psychiatrieerfahrenen / Betroffenen, der Darmstädter Krankenkassen und des Kinderschutzbundes.

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